Und noch ein Comic: Mariana und der böse Wolf
Prolog
Ein einsamer Wolf streifte rastlos durch den Wald. Er war frustriert und wütend. Wieso hatte er so eine drastische Abfuhr von ihr bekommen? Dabei hatte sie ebenfalls die Gabe und sie war jung, hübsch und charmant.
Er würde es nicht auf sich sitzen lassen. Es gab Mittel und Wege, sein Ziel zu erreichen. Er hatte seine Verbündeten sorgfältig gewählt und bereit, alles zu tun, das erforderlich war.
Sie würde am Ende klein beigeben müssen, wenn er die Nacht über den Wald in der Hand hatte und alle Lebewesen von der kleinsten Ameise bis zum mächtigen Bären ihm dienen mussten!
Er begann, schneller zu laufen und holte sie ein. Jetzt waren es nur noch seine Instinkte, die ihn antreiben, und der Durst nach ihrem Blut.
Er erreichte das letzte Tier des Rudels, fiel über es her und biss ihm die Kehle durch. Ein anderes wandte sich um und knurrte ihn zornig an. Nach kurzem Kampf lag es tot neben dem anderen.
Mit lautem Gebrüll vertrieb er die Wölfe, dann kehrte er zu seiner Beute zurück und schlug seine Reißzähne in ihr Fleisch.
Ein außergewöhnliches Talent
Ich war elf Jahre alt gewesen, als sich mein Talent das erste Mal gezeigt hatte. Ein Fuchs war aus dem Wald in unser Dorf gekommen, hatte unter den Gänsen ein Blutbad angerichtet und eine der Gänse hatte eine Bisswunde an ihrem rechten Flügel davongetragen.
Ich kümmerte mich um das Tier, während meine Schwester mitgeholfen hatte, die toten Gänse zu rupfen, um sie auf dem Feuer zu braten.
Die arme Gans stand unter Schock und der Flügel tat ihr schrecklich weh.
„Hab keine Angst, Petolia“, sagte ich zu ihr als ich die Wunde reinigte und Blätter auf die Wunde band, um eine Entzündung zu verhindern.
Schnell sprach sich bei uns im Dorf herum, dass ich mich mit meiner Petolia unterhielt. Nicht alle glaubten der Geschichte, aber es war ein interessanter Gesprächsstoff bei der täglichen Arbeit oder beim gemeinsamen Essen am Feuer.
Aocyra, unsere weiße Frau, ließ mich zu sich rufen.
„Wie geht es Petolia?“ fragte sie mich.
„Es geht ihr viel besser“, antwortete ich, „die Wunde heilt langsam, obwohl ich nicht sicher bin, dass sie jemals wieder richtig fliegen kann.“
Das Flüstern des Waldes
Der Wald erstreckte sich über das weite Land, ein üppiges und pulsierendes Paradies, das von geheimnisvollen Kreaturen und alten Geheimnissen bewohnt wurde. Riesige Bäume mit dicken, knorrigen Stämmen erhoben sich majestätisch in den Himmel, ihre dichten Kronen bildeten ein smaragdgrünes Dach, das das Sonnenlicht in tausend funkelnde Strahlen zerlegte. Rankende Lianen und Schlingpflanzen wanden sich um die Stämme und hingen wie natürliche Vorhänge herab, während farbenfrohe Orchideen und exotische Blumen das Unterholz in eine duftende, farbenfrohe Oase verwandelten.
In den Schatten der Bäume wimmelte es vor Leben. Affen huschten von Ast zu Ast, ihre Rufe und Schreie hallten durch die dichte Vegetation. Bunte Vögel mit prächtigen Federn flatterten lautlos durch die Luft, während riesige Schmetterlinge mit schillernden Flügeln anmutig über den Waldboden schwebten. Der Boden war bedeckt von einer dicken Schicht aus Laub und Moos, und in den kleinen Lichtungen sprossen Pilze in allen erdenklichen Formen und Farben, die Eomeia sammelte und immer ein Bestandteil unserer Mahlzeiten waren.
Der Wald war die Heimat vieler mystischer Wesen. Glühwürmchen tauchten bei Einbruch der Dämmerung auf und tauchten den Wald in ein sanftes, magisches Licht. Eidechsen huschten durch das Moos und suchten das Sonnenlicht. Bunte Vögel saßen in den Büschen oder flogen zwischen den Bäumen umher. Ihr munteres Gezwitscher war überall zu hören.
Das Chamäleon demonstrierte mir spontan seine Fähigkeit und seine Haut wurde purpurrot.
„Es ist doch ganz einfach“, erklärte es mir, „das Wichtigste dabei ist, dass du fest daran glaubst, dass du das kannst. Na ja, ich weiß genau, dass ich es kann – ich mache das ständig.“
„Okay, daran arbeite ich noch“, lachte ich, „und dann?“
„Der Rest ist nur noch deine Vorstellungskraft“, fuhr das Chamäleon fort, „ich stelle mir die Farbe vor, die ich tragen möchte, und der Rest passiert ganz von alleine.“
Ein hartnäckiger Verehrer
Brogan hatte seine ganz besondere Art, mir seine Bewunderung zu zeigen.
„Ich habe schon immer gewusst, dass wir uns sehr ähnlich sind“, sagte er zu mir, „ich will dich zu meiner Gefährtin nehmen und mit deiner Gabe könnten wir gemeinsam über den Wald herrschen.“
„Das glaube ich kaum“, widersprach ich, „niemand kann den Wald beherrschen. Die Waldbewohner sind frei und würden niemandem dienen.“
„Du könntest sie überzeugen“, beharrte Brogan, „du wirst die Hüterin des Waldes sein. Die meisten Tiere folgen doch nur ihren Instinkten.“
„Wir sind uns überhaupt nicht ähnlich“, widersprach ich seiner dummen und überflüssigen Bemerkung, „ganz im Gegenteil. Ich habe keinerlei Ambitionen, irgendjemanden zu beherrschen und würde niemals jemanden etwas aufzwingen, was er nicht will – selbst wenn ich es mit meiner magischen Gabe könnte.“
Am nächsten Tag war er für eine lange Zeit verschwunden und kam erst nach Sonnenuntergang wieder. Niemand von uns wunderte sich darüber. Er war ein Jäger uns verschwand oft für ein paar Tage im Wald, jagte in Regionen weit von unserem Lager entfernt und kam dann mit reicher Beute zurück.
Wir saßen am Feuer zusammen und redeten, als er auftauchte. Er hatte einen Strauß der schönsten Orchideen gepflückt und überreichte ihn mir feierlich.
„Vielleicht kann ich dich ja mit einer kleinen Aufmerksamkeit überzeugen“, murmelte er, doch es war laut genug, dass es alle mitbekamen. Es hätte nur noch gefehlt, dass er vor mir auf die Knie gefallen wäre.
Die Hüterin des Waldes
Das Einhorn Uyne war ein scheues und einzigartiges Tier. Ich stellte gleich bei meinen ersten Gesprächen fest, dass ihm kaum etwas entging, was im Wald passierte, und so traf ich es regelmäßig, um mit ihm zu plaudern und mir die letzten Neuigkeiten aus dem Wald erzählen zu lassen.
„Hier geschehen immer mehr höchst merkwürdige Dinge“, berichtete mir Uyne bei einem meiner nächsten Besuche, „vor allen Dingen nachts werden immer wieder Tiere überfallen und getötet. Irgendeine wilde Bestie richtet ein riesiges Blutbad an, frisst vom Fleisch seiner Opfer und meisten finden wir Fellstücke und Knochen in einem weiten Umkreis entfernt. Es ist ein bösartiges Monster, das keinen Respekt vor dem Leben hat.“
Ich nickte. Brogan fiel mir ein, doch er war ein Jäger und brachte seine Beute stets zu uns ins Lager. Die Bestie, die so etwas anrichtete, schien aus reiner Mordgier zu töten.
In den Tiefen des Waldes lebte ein Rudel von Wölfen. Wo der Wald dicht und undurchdringlich war, waren die anmutigen Tiere zuhause. Ihre silbergrauen Pelze bildeten einen scharfen Kontrast zu dem üppigen Grün der Umgebung und sie bewegten sich lautlos durch das Dickicht, ihre scharfen Augen und feinen Sinne stets aufmerksam, um jede Bewegung und jedes Geräusch wahrzunehmen.
Angeführt wurde das Rudel von Ulfang, einem starken Anführer. Er war größer und kräftiger als die anderen Wölfe, mit einem Blick, der Autorität und Weisheit ausstrahlte. Seine Narben erzählten Geschichten von vergangenen Kämpfen und bewiesen seine Erfahrung und Stärke. Unter seiner Führung bewegte sich das Rudel in perfekter Harmonie, jeder Wolf kannte seinen Platz und seine Aufgabe.
Ulfang sorgte dafür, dass die Gruppe stets sicher war und genügend Nahrung fand, trotz der Herausforderungen des dichten und oft unübersichtlichen Waldes.
Der Rabe und der Schwan
Inmitten des Waldes lag ein großer, malerischer See. Die Wasseroberfläche war ruhig und spiegelte die dichten Baumkronen und das smaragdgrüne Blätterdach wider, das den See umgab. Mächtige Bäume mit ihren weit ausladenden Ästen säumten die Ufer, ihre Wurzeln reichten oft bis ins Wasser und schufen ein verworrenes Netz. Dichte Büsche und Farne wucherten überall, durchzogen von farbenfrohen Orchideen und Bromelien, die dem Ganzen einen exotischen Charme verliehen.
Vögel mit leuchtendem Gefieder flogen über den See und erfüllten die Luft mit ihren Rufen. Im Schatten der Bäume und Büsche tummelten sich zahlreiche Tiere, und hin und wieder konnte man das Plätschern eines Fisches hören, der an die Oberfläche sprang. Schmetterlinge in allen erdenklichen Farben schwebten sanft über das Wasser und setzten sich auf die Blüten der Büsche, während das Summen der Insekten eine ständige Hintergrundmelodie bildete.
Bunte Libellen schwebten elegant über das Wasser und Frösche hüpften munter quakend am Ufer entlang.
Kurzerhand schlüpfte ich aus meinem Gewand, legte meinen Beutel dazu und sprang ins Wasser.
Es war herrlich und erfrischend. Ich konnte durch das klare Wasser Fische sehen, die in kleinen Schwärmen vorbeigezogen und nach Futter suchten.
Ein Boot kam aus einer Bucht. Ein junger Fischer stand darin, einen Speer in der Hand, mit dem er versuchte, einen der größeren Fische zu erlegen.
Noch hatte er mich nicht gesehen und rasch verwandelte ich mich in einen Schwan.
Die Jagd beginnt
Wir hielten eine Versammlung ab, zu der auch Aocyra kam. Ich musste noch einmal allen erzählen, was ich beobachtet und gehört hatte, und Aocyra erzählte die Geschichte, die sie mir erzählt hatte.
„Ich fürchte, die Gefahr, dir im Wald auf uns lauert, ist sehr real“, erklärte sie, „und es ist nichts, was unsere Hüterin alleine herausfinden kann. Noch wissen wir nicht, was für ein Ungeheuer hier sein Unwesen treibt, und wir brauchen eine Gruppe Jäger, die sie auf der Suche nach ihm in den Wald begleitet, um es aufzuspüren.“
Einige unserer Jägerinnen und Jäger erklärten sich bereit, mich auf der Suche nach dem blutrünstigen Monster zu begleiten, während Brogan mit zwei anderen Jägern im Lager bei den anderen zurückbleiben sollte.
Ich hatte kein Glück. Weit und breit war von ihm nichts zu sehen und ich war enttäuscht, als wir in unser Camp zurückkehrten.
Dort wartete eine Überraschung auf mich. Die Jägerinnen, die das Camp bewacht hatten, hatten einen Gefangenen gemacht. Sie hatten ihm die Hände zusammengebunden und Preolithya hatte ihren Speer auf ihn gerichtet.
Es war mein Fischer!
„Er hat unser Camp entdeckt“, berichtete Preolithya, „und wir sollten uns davon überzeugen, dass er nicht das Monster ist, das wir suchen.“
Im Bann des Mondes
An den folgenden beiden Tagen suchten wir die Umgebung systematisch nach Spuren ab. Weil ich für Jiro verantwortlich war, war er immer mit mir unterwegs, und wir hatten reichlich Gelegenheit, uns besser kennenzulernen.
Er kam aus einem anderen Dorf etwas weiter weg. Vor ein paar Monaten hatte es dort einen Überfall gegeben. Fast alle Dorfbewohner waren getötet worden oder waren geflohen. Als Jiro vom Angeln heimgekehrt war, fand er die kleine Siedlung verwaist und geplündert.
Jiro floh in den Wald, lebte in einem einfachen Zelt in der Nähe des Sees, wo er sich sicher fühlte, und lebte von den Früchten des Waldes und den Fischen, die er fing.
„Ich habe immer vermutet, dass eine feindliche Sippe hinter dem Überfall gesteckt hat“, sagte er zu mir, „doch es ist gut möglich, dass es auch dieses schreckliche Geschöpf gewesen ist, das wir suchen.“
In der Felswand gab es eine Höhle, in der wir in den nächsten bleiben konnten. Der Eingang führte in einen große Halle, die über schmale Gänge tiefer in den Berg führte.
Hier richteten wir uns notdürftig ein und waren froh, dass wir der Bedrohung erst einmal entkommen waren.
„Es riecht ein bisschen komisch“, meinte Jiro, „aber das soll uns nicht stören.“
Als es dunkel wurde, saßen wir am Eingang der Höhle und sahen ins Tal. Über dem Wald ging der Mond auf, voll und rund, und hüllte Die Welt in magisches Licht.
Die Fährte des Bösen
Nach zwei Tagen in unserem Exil in der Höhle hielt ich es nicht länger aus. Ich konnte einfach nicht tatenlos herumsitzen, während Eomeia in großer Gefahr war.
„Es hilft alles nichts“, sagte ich zu Jiro, Dalyne und Tulete, „wir müssen weiter versuchen, Eomeia zu finden.“
Falls es nicht sowieso schon zu spät war. Eomeia ging nie so lange alleine in den Wald und der schreckliche Anblick der getöteten Tiere und dem Blutbad, das die Kreatur angerichtet hatte, gingen mir nicht mehr aus dem Kopf.
Jiro nickte nur. Ich konnte deutlich spüren, dass er sich nicht sicher war, ob wir das große Risiko eingehen sollten, unseren Zufluchtsort verlassen und uns der Bedrohung aussetzen sollten.
Am Nachmittag rasteten wir am Waldrand. Grout und die anderen Wölfe brachten Hasen, die sie gefangen hatten, und Jiro zog ihnen das Fell ab, damit wir sie auf dem Feuer braten konnten.
„Es ist schon eine eigenartig, dass wir so gerne andere Lebewesen essen“, sagte ich zu meinen Freunden, aber selbst Dalyne hatte nichts dagegen einzuwenden.
„Frische, saftige Würmer sind etwas sehr Leckeres. In den Wiesen gibt es davon massenhaft.“
Und auch Jiro fand nichts dabei, Fische zu fangen und sie zu braten.
„Das bedeutet aber nicht, dass wir respektlos mit ihrem Leben umgehen. Ich würde niemals mehr Fische fangen, als ich verarbeiten, essen oder gegen andere Lebensmittel eintauschen kann.“
Dunkle Mächte
Der alte Wachturm stand einst stolz und mächtig mitten im üppigen Grün des Waldes, einer vergessenen Welt aus einer längst vergangenen Zeit. Er war von riesigen Bäumen mit ihren dichten, ineinander verflochtenen Kronen umgeben und die dicken Steinmauern waren von Moos und Efeu überwuchert.
Die einst scharfen Kanten der Steine waren von Wind und Wetter abgerundet und von Rissen durchzogen, in denen kleine Pflanzen sprossen. Noch vor vielen Jahrhunderten hatten die Menschen hier auf den höchsten Punkt der Landschaft gebaut, um Feinde frühzeitig erspähen zu können. Jetzt war der Wachturm verlassen, nur noch ein einsames Mahnmal vergangener Tage. Die schmalen Schießscharten und Fenster, die früher den Wächtern Ausblick und Schutz boten, waren nun düstere, leere Augen, die in die Ferne starrten.
Im Inneren des Turms befand sich eine enge Wendeltreppe, die durch die Feuchtigkeit des Waldes morsch und brüchig geworden war. Wo einst tapfere Krieger hinauf- und hinabgestiegen waren, krochen jetzt nur noch kleine Tiere und Insekten. Die oberen Stockwerke des Turms waren teilweise eingestürzt, und der steinerne Boden war bedeckt mit Trümmern und Blättern, die durch die zerbrochenen Fenster hereingeweht worden waren.
Qwyn war ein Magier, der die Geheimnisse dunkler Mächte kannte, wie sonst kein anderer. Seine dunklen, stechenden Augen und sein weißer Bart gaben ihm ein Aussehen von Autorität, das niemand in Frage stellte.
Er hatte von Brogans verborgenen Wesen erfahren, ihn überredet, ihm mit seiner Fähigkeit, sich zu verwandeln, zu dienen und ihm große Macht versprochen, wenn er den Zauber sprechen und dem Herr der Finsternis ein Opfer bringen würde.
Qwyn kannte die magischen Worte schon lange, hatte die alten Schriften, in denen sie niedergeschrieben waren, sorgfältig studiert und viele Jahre auf die Gelegenheit gewartet, einen Jäger mit Brogans Gabe zu treffen, um den Zauber anzuwenden, der ihn zum Herrscher über das Leben in den Wäldern, Wiesen, Bergen, Flüsse und Seen machen würde.
Nun war die Zeit gekommen und das Mädchen war in ihrer jugendlichen Reinheit genau die Zutat, die er benötigte, um den Zauber auszuführen.
Vollmond
Der Mond stand hoch am Himmel und warf sein silbernes Licht auf die Lichtung tief im Wald. Die Bäume ringsumher schienen in dieser Nacht zu flüstern, ihre Blätter bewegten sich kaum, und die Luft war schwer und feucht. Wir standen in einem großen Kreis in der Mitte der Lichtung, voller Erwartung und Ehrfurcht vor dem, was kommen sollte.
Ich hielt den Atem an, als Aocyra die alten Symbole in den weichen Erdboden zeichnete. Jeder Strich musste perfekt sein, jeder Kreis und jede Linie eine Verbindung zur uralten Magie, die sie beschwören wollte. Das Licht des Mondes schien die Zeichnungen zu beleben, sie glitzerten und schimmerten als wären sie lebendig.
Um sich herum hatte Aocyra die benötigten Utensilien platziert: eine Schale mit klarem Quellwasser, einige Federn verschiedener Vögel, eine Handvoll glänzender Edelsteine und ein uraltes Buch, dessen Seiten von den Jahren vergilbt waren. Sie öffnete das Buch und deklamierte die Worte mit fester Stimme.
Ein plötzlicher Lichtblitz durchzuckte die Lichtung, und in diesem Moment wusste ich, dass ihr Ruf erhört worden war. Eine Gestalt formte sich aus dem Mondlicht, schimmernd und durchscheinend, aber dennoch deutlich erkennbar. Sie schwebte über dem Boden, ihre Augen leuchteten wie Sterne, und ihre Anwesenheit erfüllte mich mit Ehrfurcht und einem tiefen Frieden.
„Du hast uns gerufen, und wir sind gekommen“, sagte die Gestalt mit einer Stimme, die wie das Rauschen des Windes klang, „deine Bitte ist rein, und wir werden dir antworten.“
Aocyra kniete nieder, mein Herz klopfte wild. „Wir brauchen eure Hilfe“, flüsterte sie ehrfürchtig, „ein böser Fluch liegt über dem Wald, der alles Leben in sich aufsaugt.“
Die Gestalt neigte den Kopf und erhob eine Hand. Ein sanfter Lichtstrahl fiel auf Aocyra, und in diesem Licht sahen wir Bilder, Visionen der Welt, die uns umgab. Sie zeigten uns Herausforderungen und Triumphe, Finsternis und Licht, Angst und Hoffnung, Tod und Leben. Ich konnte spüren, wie diese beiden Seiten im Kampf miteinander lagen und unsere Welt bedrohte.
Gemeinsam sind wir stark
Es war ein langer Zug, als wir am Ufer des Flusses bis zu Stelle gingen, die Dalyne entdeckt hatte. Tulete, Jiro und ich gingen voraus, der Rabe flatterte über unseren Köpfen voran, um uns den Weg zu zeigen, und viele Wölfe aus den Rudeln auf unserer Seite des Tumirera folgten uns.
Jiro war beeindruckt.
„Deine Gabe ist wirklich mächtig. Du hast sie alle vereinigt, um uns zu unterstützen.“
„Vielleicht“, antwortete ich, „aber sie folgen uns aus Freundschaft und weil sie genau wissen, wie sehr der Wald und seine Lebewesen voneinander abhängig sind.“
Die Wölfe verschwanden im Wald, steckten ihre Nasen auf den Waldboden und suchten nach einer menschlichen Fährte. Währenddessen gingen Jiro, Tulete und ich am Ufer entlang und Dalyne flog immer ein gutes Stück voraus, hielt mich möglichen Gefahren Ausschau und sah in die Ferne, ob er Hinweise auf eine menschliche Siedlung oder Ähnliches fand.
Grout und Ulfang hielten Kontakt zwischen den Wölfen und uns. Immer wieder kamen sie aus dem Wald und ich wechselte ein paar Worte mit ihnen.
Wir waren eine ganze Weile unterwegs gewesen als Dalyne im Sturzflug zu uns herunterschoss und auf meiner Schulter landete.
„Es gibt dort menschliche Häuser“, berichtete er mir, „aber sie sehen nicht aus, wie das Dorf, in dem ihr lebt.“
Die letzte Schlacht
Wir folgten der Fährte bis wir den Turm und ein paar andere Gebäude erreichten. Vor langer Zeit war hier eine befestigte Siedlung gewesen, von der nur noch verfallene Ruinen erhalten waren, die von wilden Ranken überwuchert waren.
Auch der alte Wachturm hatte bessere Zeiten erlebt. Von den einst mächtigen Zinnen war nichts mehr erhalten, nur die unteren Etagen waren noch einigermaßen erhalten, auch wenn sich der Staub überall ausgebreitet hatte.
Aber hier musste jemand in den letzten Wochen gelebt haben, das verrieten uns die Spuren auf dem staubigen Boden.
„Es sind zwei Menschen hier gewesen“, bestätigte Grout, der ihren Geruch wahrgenommen hatte, „es kann nicht lange her gewesen sein. Und auch ein Wolf war hier, aber es war keiner aus unserem Rudel.“
Brogan ließ sich dadurch jedoch nicht einschüchtern, zog einen Dolch hervor und hielt ihn mir an die Kehle.
„Das werden wir ja sehen!“ antwortete er triumphierend, „und jetzt verschwinde!“
Jiro wich zurück und Brogan sah mir in die Augen.
„Das war ziemlich dämlich von ihm“, spottete er, „du siehst, er ist eben nur ein Fischer.“
In diesem Moment war Tulete bei ihm und streckte ihn mit einem Hieb seiner starken Pranke zu Boden.
Die Kraft der Elemente
„Du bist perfekt für diese Aufgabe“, sagte Jiro irgendwann zu mir, „der Wald ist dein Zuhause und du bist in mit allen Elementen vertraut.“
„Obwohl ich vor dem Feuer großen Respekt habe“, antwortete ich, „die Erde ist ganz sicher das Element, mit dem ich am besten vertraut bin.“
„Bei mir ist es das Wasser“, grinste er, „ob es der See oder der Tumirera ist – am oder im Wasser fühle ich mich am Wohlsten.“
„Ich mag es auch, den Wind in meinen Haaren zu spüren. Vor einem Sturm habe ich ebenfalls großen Respekt und doch gehört er dazu, wie die Sonne und der Regen.“
In der Sonne war es heiß und am Feuer kam ich ganz schön ins Schwitzen.
„Jetzt will ich auch noch ins Wasser!“ sagte ich zu Jiro, „du hast ja deine Abkühlung schon gehabt.“
„Ach, ich habe auch nochmal Lust“, entgegnete er grinsend, „so schnell kommen wir ja doch nicht wieder hierher.“
Tulete verzichtete auf das Bad und auch Dalyne war nicht gerade eine Wasserratte. Jiro und ich sprangen ins Wasser und bevor ich noch richtig losgeschwommen war, hatte er einen großen Vorsprung.
Das Wasser war frisch und klar und belebte meine Sinne. Jiro wartete auf mich und wir schwammen ein gutes Stück auf den See hinaus.
Der vergessene Pakt
„Ich erinnere mich ganz deutlich an die Worte, die wir bei dem magischen Ritual gehört haben“, sagte ich zu ihr, „es war von einem ‚vergessenen Pakt‘ die Rede. Was hat es damit auf sich?“
Das Lächeln verschwand mit einem Mal von ihrem Gesicht und sie sah einen Moment lang in die Ferne, als wollte sie ihre Gedanken ordnen.
Schließlich sah sie mich an und begann zu erzählen.
„Es gibt eine uralte Legende, die über viele Generationen weitererzählt wurde. Ich war ein junges Mädchen und erinnere mich noch genau daran, als meine Urgroßmutter sie mir damals erzählt hat. Heute kennt sie kaum einer mehr, doch ich bin sicher, dass diese Legende mehr als nur eine Gutenachtgeschichte ist.
Es kam wie Aocyra es vorhergesagt hatte. Die Ältesten entschieden sich dafür, den Pakt zu erneuern und Abgesandte zu den Sippen der Wälder zu schicken, um dafür zu werben.
Preolithya war eine der Botschafterinnen, die für diese Aufgabe ausgewählt wurde, dazu Ayesia, Puycabe und Nyphnaolipe.
Wir waren viele Tage unterwegs durch den Wald, sprachen mit den Ältesten der anderen Sippen, genossen ihre Gastfreundschaft und redeten lange mit ihnen.
Es waren spannende Begegnungen, gute Gespräche und viele Menschen, die wir trafen und sich freuten, dass wir ein Bündnis mit ihnen schließen wollten.
Das Lied der Tiere
Ich füllte meinen Korb mit Beeren, sammelte Pilze und pflückte Drobatschi und Kuvaki von den Bäumen am Waldrand.
Auf den Wiesen blühte es bunt und ich pflückte einen großen Strauß der Wiesenblumen. Ich wollte, das für unsere Feier alles schön dekorieren.
Ich ging durch den Wald bis zu der Waldlichtung, wo uns zum Feiern verabredet hatten.
Grout wartete schon auf mich.
„Ulfang sammelt gerade noch die Wölfe von zwei anderen Rudeln ein“, berichtete er, „du wirst heute viele Gäste begrüßen können.“
Uyne kam wenig später angetrabt und begrüßte mich wie einen guten Freund. Ich streichelte ihn und er dankte mir für alles, was ich getan hatte.
„Wir sind so froh, dich als Hüterin hier zu haben“, sagte er.
Er stimmte eine fröhliche Melodie an und begann zu singen:
Im Herzen des Dschungels, wo die wilden Winde wehen,
Erzählt man von Freundschaft, wo die Flüsse fließen sehen.
Ein Wolf und ein Bär, ein Einhorn und ein Vogel,
Gemeinsam standen sie stark, ihre Stimmen so wohl.
„Und jetzt singt alle mit!“ rief er und die Wölfe stimmten gleich mit ein.
Durch Dickicht und Bäume, fanden sie ihren Pfad,
Hand in Hand, jeden Tag, den sie wagten.
Mit der Stärke des Wolfs und des Raben Gesang,
Bewiesen sie gemeinsam, dass man alles erlangen kann.
Ich nahm Jiro an der Hand und wir mischten uns unter die Tanzenden.
Epilog
Wir hatten einen guten Kompromiss gefunden, wie ich in der Nähe des Walds und Jiro nahe am Wasser leben konnte: Er für uns ein kleines Häuschen am Ufer des Tumirera gebaut, das nahe am Waldrand lag.
Für seinen Kahn hatte er einen Steg gezimmert und von hier aus war es nicht weit bis zu dem See.
Bald hatte sich im Wald herumgesprochen, wo die Tiere des Waldes mich finden konnten, und wenn ich nicht gerade im Wald meiner Arbeit nachging oder Pilze und Beeren sammelte, kamen meine Freunde oft zu Besuch zu uns.
Dalyne war nach wie vor mein ständiger Begleiter und er begleitete mich auf meinen Streifzügen durch den Wald.
Die Äffchen kletterten gerne von der Terrasse auf das Dach und die fröhlichen Gesellen waren für jede Art von Spaß zu haben.
Für mich war es eine neue Erfahrung, so nah am Wasser zu leben, den Fluss rauschen zu hören und mich nach einem heißen Tag darin zu erfrischen, und Jiro begleitete mich hin und wieder in den Wald, wenn ich mit den Waldbewohnern sprach, mir ihre alltäglichen Sorgen anhörte und mich um sie kümmerte.
Ich war glücklich, mit Jiro zusammen zu sein. Er war meine Gefährte und er war ganz genau der richtige für mich. Wir waren uns nicht ähnlich, hatten völlig andere Talente und waren nicht immer derselben Meinung.
ENDE
Mehr über die starken Heldinnen in meinen Geschichten findet ihr in dieser Übersicht.
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