Larissa hat nach ihrer Verwandlung eine zweite Familie. In dem Kapitel „Meine zweite Familie“ meiner Geschichte Ungestillte Sehnsucht trifft sie die Eltern von Maren, dessen Körper sie ‚geerbt‘ hat, und ihren Bruder.
Es ist ein riesiger Schock und dann eine große Freude.
Ich schob es lange vor mir her, obwohl ich wusste, dass ich mich meiner unbekannten Vergangenheit irgendwann stellen musste.
Längst hatte ich herausgefunden, wo Blankenrode lag, der Ort, in dem Maren gelebt hatte.
Gib dir einen Ruck, sagte ich irgendwann zu mir, du willst doch endlich wissen, wer Maren gewesen ist, wie sie gelehat und wie viel von ihrem Leben, ihren Talenten, Träumen, Gedanken und Gefühlen in dir steckt.
Doch wie würde ihre Familie reagieren, wenn sie mich sah? Würden sie akzeptierten, dass ich nun zu einem nicht unerheblichen Teil zu Maren geworden war?
Auf der anderen Seite sollten sie wissen, was mit ihr geschehen war. Ihr plötzlicher, tragischer Tod hatte bestimmt eine Menge Trauer und Schmerz verursacht. Vielleicht würde es sie trösten, wenn sie wüssten, dass ein Teil von ihr in mir weiterlebte.
Wie sie wohl reagieren würden? Schock, Wiedersehensfreude, Erinnerungen an den Schmerz ihres Verlustes?
Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr Unbehagen und Angst bereitete mir der Gedanke, Marens Familie zu treffen, aber ich wollte nicht länger kneifen, denn ich wusste, dass es das Richtige sein würde.
Und wenn sie es nicht ertragen, dass eine Fremde nun in ihrem Körper lebte, hatte ich es wenigstens versucht und sie wussten Bescheid.
Es gab einen Bus aufs Land, wo das Dorf Blankenrode lag. Die Fahrt war nicht weit, und je näher wir meinem Ziel kamen, umso nervöser wurde ich.
Schließlich erreichten wir Blankenrode, ich stieg aus und ging zu Fuß zu der Adresse, die ich herausgefunden hatte.
Dann stand ich mit Herzklopfen vor der Haustüre und starrte den Klingelknopf an, auf dem ‚Henzler‘ stand.
Jetzt war es zu spät, einen Rückzieher zu machen. Ich klingelte und wartete.
Es dauerte nicht lange bis ich Schritte hörte und die Türe geöffnet wurde. Ein Junge, nicht viel älter als ich, öffnete und erstarrte, als er mich sah.
„Maren!“ rief er in Staunen und Schock, „du lebst!“
„Hey“, antwortete ich, „ja ich lebe, auch wenn alles ein bisschen anders aussieht, als es auf den ersten Blick scheint.“
„Komm rein“, forderte er mich auf, „hast du mal wieder deinen Hausschlüssel nicht dabei? Meine Güte, wir haben schon alle Hoffnung aufgegeben, dich jemals wiederzusehen!“
Ich folgte ihn ins Wohnzimmer. Es kam mir vertraut vor, obwohl ich mich daran nicht wirklich erinnern konnte.
„Ich muss dir die ganze Geschichte erzählen“, sagte ich zu ihm, „obwohl du es vielleicht nicht glauben kannst. Ich heiße jetzt Larissa und ein großer Teil von dem Mädchen, das du siehst, ist jemand ganz anderes. Ich war bis neulich ein Junge, hieß Manuel und habe mir gewünscht, ein Mädchen zu werden.“
Ich erzählte ihm die ganze Geschichte, meiner Verwandlung mit der Maschine bei TransMuTec, die Übertragung in Marens toten Körper, meine Begeisterung, dass mein Traum sich erfüllt hatte, die Erinnerungen, die von Marens Vergangenheit in mir zurückgeblieben waren und eine Menge von dem, was ich erlebt hatte.
„Das ist ja unglaublich“, meinte er schließlich, „wir kennen uns unser ganzes Leben lang, und doch bist du eine Fremde, die wie meine Schwester aussieht.“
„Du kannst weiterhin Maren zu mir sagen, wenn du möchtest“, bot ich ihm an.
„Ich bin Nemeth, nur für den Fall, dass du dich daran nicht erinnerst.“
„Erzähl mir von deiner Schwester. Ich weiß nicht viel über sie. Nur ein paar Dinge, an die ich mich erinnere.“
„In deinem Zimmer ist eine große Schachtel mit Fotos. Lass uns sehen, was Maren so alles gesammelt hat, und ich kann dir das eine oder andere erzählen.“
„Gute Idee“, antwortete ich, „das sind Erinnerungen, die näher an der Realität dran sind, als die in meinem Kopf.“
Es waren unzählige Bilder in der Schachtel. Ein paar davon kamen mir bekannt vor und ich erinnerte mich plötzlich an Begebenheiten aus Marens Leben, die lange her waren und doch lebendig und real waren.
Nemeth konnte mir zu vielen der Bilder mehr erzählen und es war aufregend, plötzlich so viel über mein zweites Leben zu erfahren.
Viele der Bilder waren Urlaubsfotos. Nemeth erzählte mir von unserem Urlaub in Griechenland, wo wir viele Stunden am Strand verbracht m, Muscheln gesammelt und gebadet hatten.
„Manchmal haben wir es fast nicht geschafft, dich aus dem Wasser zu kriegen“, lachte er, „du bist eine richtige Wasserratte.“
Ein Bild zeigte mich mit meiner besten Freundin Leonie, das blonde Mädchen, das ich in einer meiner Erinnerungen gesehen hatte. Nemeth erzählte, wie unzertrennlich wir beide gewesen waren, und ich beschloss, sie bald auch zu besuchen.
Viele Familienfotos waren dabei. Glückliche Bilder vergangener Zeiten. Meine Eltern sahen sympathisch aus und ich bemerkte meine große Ähnlichkeit mit meiner Mutter.
„Sie werden einen kleinen Schock bekommen, wenn sie dich sehen“, lachte Nemeth, „sie haben lange um dich getrauert.“
Viele andere Bilder folgten. Maren in einem hübschen Sommerkleid im Garten, Selfies, Maren und Leonie in der Eisdiele, Aufnahmen einer Klassenfahrt auf die Schwäbische Alb, meine Konfirmation und viele andere, die Erinnerungen wieder lebend werden ließen.
„Ich hätte nie gedacht, dass Erinnerungen so wertvoll sind“, sagte ich nachdenklich zu ihm, „bisher haben sie mich eher beunruhigt, weil es gruslig war, dass ich sie nicht einordnen konnte. Jetzt wird mir vieles klarer und ich bin froh darüber.“
Die Zeit verging und ich war froh, dass ich den Mut gefunden hatte, mit Marens Familie Kontakt aufzunehmen.
Wir hörten wie die Haustüre geöffnet wurde. „Nemeth, wir sind Zuhause!“ rief meine Mutter.
„Wir sind oben“, antwortete Nemeth, „und sind gleich bei euch.“
Er sah mich an und ich nickte. Ich freute mich auf das Wiedersehen und hoffte, dass meine Eltern es ebenso gut verkraften, wie Nemeth.
„Ich habe eine Überraschung für euch“, sagte Nemeth, „seht mal, wer zu Besuch gekommen ist!“
Meine Mutter sah aus, als würde sie in Ohnmacht fallen, als sie mich sah.
„Maren! Bist du’s wirklich? Wie ist das möglich?!“
„Das ist eine lange Geschichte…“
Sie schloss mich in die Arme und drückte mich fest.
„Erzähl sie uns nach dem Abendessen“, sagte sie und wischte sich eine Träne aus den Augen, „wir haben dich schrecklich vermisst!“
Jetzt hatte ich also plötzlich zwei Familien und ich war froh, dass ich den Mut gefunden hatte, sie zu besuchen.
Mehr über die starken Heldinnen in meinen Geschichten findet ihr in dieser Übersicht.





