In meiner Geschichte „Der Bund der Absonderlichen“ gibt es eine entscheidende Szene. Die Gestaltwandlerin Erynn muss eine wichtige Entscheidung treffen: Soll sie ihre außerordentliche Gabe aus Furcht vor Verfolgung durch den Mutantenjäger des Fürsten in Zukunft nicht mehr einsetzen und der Goldschmied Carl bleiben? Soll sie aus Liebe zu Kieran für immer Erynn bleiben und mit dem Risiko der Verfolgung und Diskriminierung leben? Oder soll sie Nefaria verlassen und an einem anderen Ort noch einmal von vorne anfangen?
Sie reist nach Lissonne und besucht die Kathedrale. Dort begegnet ihr ein alter Mönch, der ihr die Beichte abnimmt und dem sie von ihrer absonderlichen Gabe erzählt.
Es ist eine Szene, die von Angst aber auch von Hoffnung bestimmt wird. Die Offenheit für Menschen, die anders sind, Toleranz, Fürsorge und die Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit, Frieden und Akzeptanz sind das Thema der Geschichte.
Hier das Kapitel als Kostprobe der Geschichte:
Exil
Die öffentliche Hinrichtung von Sophie hatte mich ins Nachdenken gebracht. Ich hatte eine Fähigkeit, die mich zu einer gesellschaftlichen Randgruppe machte. Wir Mutanten würden es schwer haben, ihre Talente zu verbergen, und ich hatte keine Lust, auf dem Scheiterhaufen zu enden.
Ich musste eine Entscheidung treffen, und sie fiel mir nicht leicht. Ich konnte wieder Carl werden, ich konnte für immer Erynn bleiben oder ich je nach Lust und Laune in einen beliebigen anderen Körper schlüpfen.
Oder ich konnte Nefaria hinter mich lassen und in einem anderen Dorf ganz neu beginnen.
Um Klarheit zu gewinnen, machte ich mich auf den Weg ins Landesinnere nach Lissonne.
Schon von weitem konnte ich die Türme der großen Kathedrale sehen, die sich im Zentrum von Lissonne erhob. Hier hoffte ich, etwas mehr Klarheit zu gewinnen, wer ich sein wollte und welches die richtige Entscheidung für mich war.
Im Inneren des Gotteshauses war es kühl und friedlich. Die Ruhe in dem majestätischen Kirchenschiff war die beste Umgebung, um nachzudenken.
Durch die bunten Fenster fiel gedämpftes Licht in schillernden Farben auf den steinernen Boden und auf dem Altar standen frische Blumen. Das Bild der Muttergottes mit ihrem Sohn hing an einer Wand, Kerzen brannten, die an das Leben Verstorbener erinnerten in einem gläsernen Schrein war eine alte Reliquie ausgestellt.
Ich setzte mich in die vorderste Reihe und ließ das Bild auf mich wirken. Das geschnitzte Kruzifix ließ mich schmunzeln. Noch einer, den sie hingerichtet hatten, weil er anders war und den Menschen Angst gemacht hatte.
Ein alter Mönch in einer dunklen Kutte und einem weißen Bart sprach mich an.
„Wünscht Ihr die Beichte abzulegen?“ fragte er mich, „ich bin Bruder Simeon. Ihr könnt mit mir über alles reden, was Euch bedrückt.“
„Vielleicht ist das eine gute Idee“, antwortete ich, „auch wenn ich hier gekommen bin, um Klarheit zu finden für eine wichtige Entscheidung, die ich treffen muss.“
„Die Beichte kann ein guter Anfang sein“, erklärte er mir, „in Gottes Nähe kann man gute Antworten finden, wenn man bereit ist, auf ihn zu hören.“
Ich folgte ihm zu dem Beichtstuhl und nahm in dem dunklen Kasten Platz.
„Ich muss gestehen, ich bin schon lange nicht mehr in der Messe gewesen“, begann ich, „wo ich lebe ist die Kirche für zu sehr darum bemüht, Sünder zu bestrafen, ihre Macht zu demonstrieren und den Fürst zu hofieren.“
Ich erzählte ihm von Sophies Hinrichtung, der tiefen Kluft zwischen Armen und Reichen und von der Jagd auf Mutanten, die in Nefaria beginnen hatte.
Schließlich berichtete ich ihm von meiner außergewöhnlichen Gabe und er hörte mir geduldig zu.
Am Ende meines Berichts schwieg er einen Moment, bevor er mir antwortete.
„Du hast vom Herrn eine mächtige Gabe empfangen. Du musst dich deswegen nicht schämen – nur seine Weisheit kann sie erklären. Doch jede Gabe ist mit einer großen Verantwortung verbunden. Höre auf dein Herz, um deine Entscheidung zu treffen. Hüte dich davor, deine Gabe nur für deinen persönlichen Vorteil zu einzusetzen und setze sie ein, um den Menschen Hoffnung zu geben.“
„Das will ich versuchen“, versprach ich ihm.
„Unser Herr war wie du mit einer besonderen Gabe gesegnet“, fuhr Bruder Simeon fort, „aber er hat seine Wunder getan, um Menschen zu heilen und Gott zu dienen. Er hat sich um diejenigen gesorgt, die geächtet und verloren waren, hat die Armen gespeist und sogar Tote aufgeweckt. Aber er hat es getan, um Menschen zu versöhnen, den Ausgestoßenen zu zeigen, dass es Hoffnung gibt, und Grenzen überschritten, die Arme und Reiche, Gottesfürchtige und Sünder, Juden und Heiden voneinander getrennt hat. Lebe nach seinem Vorbild, nimm dir Zeit um alles zu bedenken und triff deine Entscheidung mit Weisheit.“
Ich dankte ihm für seine ermutigenden Worte. Sein Rat war anders gewesen, als ich es erwartet hatte, und mit großer Erleichterung verabschiedete ich mich am Ende meiner Beichte von ihm.